Rechtsprechungsgrundsätze zu Abmahnungen
1. Nicht alle in der Abmahnung enthaltenen Tatsachen sind vom Arbeitgeber richtig wiedergegeben.
Da die Abmahnung damit jedenfalls nicht in allen Punkten gerechtfertigt ist, muss das Abmahnungsschreiben vollständig aus der Personalakte entfernt werden und kann auch nicht teilweise aufrechterhalten bleiben.
Dem Arbeitgeber ist es überlassen, ob er stattdessen eine auf zutreffende Pflichtverletzungen beschränkte Abmahnung aussprechen will; in jedem Falle ist das Abmahnungsschreiben in seiner Gesamtheit aus der Akte zu entfernen,
BAG, Urt. v. 13.03.1991-5 AZR 133/90; LAG Köln, Urt. v. 12.03.1966-5 Sa 1191/85, LAGE Nr. 3 zu § 611 BGB, Abmahnung; LAG Düsseldorf, Urt. v. 18.11.1986-3 Sa 1387/86, LAGE Nr. 7 zu § 611 BGB, Abmahnung; LAG Hamm, Urt. v. 03.11.1987-13 Sa 96/87, LAGE Nr. 9 zu § 611 BGB, Abmahnung.
2. Der Arbeitgeber ist auch deshalb verpflichtet, die Abmahnung zurückzunehmen und aus den Personalakten zu entfernen, weil diese Abmahnung unter Verstoß gegen § 13 Abs. 2 BAT zur Personalakte genommen wurde.
Die klägerische Partei hat gegen die beklagte Partei einen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus den bei ihr geführten Personalakten gemäß §§ 611, 242 BGB. Mit der Aufnahme einer Abmahnung ohne vorherige Anhörung des Angestellten verletzt der Arbeitgeber eine vertraglich vereinbarte Nebenpflicht. Diese Pflichtverletzung begründet einen schuldrechtlichen Entfernungsanspruch neben dem Recht des Arbeitnehmers auf Gegenäußerung nach § 13 Abs. 2 Satz 2 BAT und der Möglichkeit, die missbilligende Äußerung des Arbeitgebers gerichtlich überprüfen zu lassen, ob sie nach Form und Inhalt geeignet ist, ihn in seiner Rechtsstellung zu beeinträchtigen,
BAG Urt. v. 13.10.1988-6 AZR 144/85, NZA 1989, 716 = AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; Urt. v. 16.11.1989-6 AZR 64/88 - unveröffentlicht.
§ 13 Abs. 2 Satz 1 BAT ist nicht auf Beschwerden oder Behauptungen tatsächlicher Art, die außerhalb des internen Bereichs des Arbeitgebers, insbesondere von Außenstehenden kommen, beschränkt,
BAG, Urt. v. 16.11.1989-6 AZR 64/88; Clemens/Scheuring/ Steingen/Wiese, BAT, Stand März 1993, § 13 Erläuterung 6.
Vielmehr gewährt § 13 Abs. 2 Satz 1 BAT ein umfassendes Anhörungsrecht zu allen Beschwerden und Behauptungen, die dem Arbeitnehmer nachteilig sind.
3. Ist mit einem Abmahnungsschreiben gegenüber dem Arbeitnehmer unmissverständlich klargemacht worden, er habe bei mangelnder Leistungssteigerung mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, die auch zur Kündigung führen könnten, ist der Arbeitnehmer hinreichend gewarnt,
BAG, NZA 1985, 124; NZA 1991, 557.
Ist die Abmahnung formell unwirksam, beispielsweise weil sie unter Verstoß gegen § 13 BAT zu den Personalakten gelangt ist, hat der Arbeitnehmer aber nicht zum Ausdruck gebracht, dass er aus den formellen Gründen annahm, das Abmahnschreiben sei unbeachtlich, büßt die Abmahnung ihre kündigungsrechtliche Warnfunktion nicht dadurch ein, daß sie formell unwirksam war,
BAG, Urt. v. 21.05.1992, NZA 1992, 1028.
4. Eine zusammenfassende Betrachtung mehrerer abgemahnter Pflichtverstöße kann eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn die Pflichtverstöße gleichartig sind. Die Pflichtverstöße müssen nicht unbedingt identisch sein.
Als gleichartig sind Pflichtverletzung anzusehen, die zu vergleichbaren Störungen des Arbeitsverhältnisses führen und als übereinstimmender Ausdruck einer spezifischen Unzuverlässigkeit des Arbeitnehmers angesehen werden können. In diesem Sinne sind unberechtigtes Fehlen und berechtigtes, aber nicht angezeigtes Fernbleiben von der Arbeit gleichartige Pflichtverletzungen,
LAG Berlin, Urt. v. 05.12.1995-12 Sa 111/95 - unveröffentlicht.
5. Vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Abmahnung erforderlich,
BAG, AP Nrn. 52, 62 zu § 626 BGB; AP Nr. 1 zu § 124 GewO; Nr. 9 zu § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung; BAG, Betr. 1982, 758.
Wegen der Hinweis-, Warn- und Dokumentationsfunktion muss daher grundsätzlich einer verhaltensbedingten Kündigung eine Abmahnung vorausgehen, bevor der Arbeitgeber kündigen darf. Dabei hat das LAG Hamm entschieden, dass eine Kündigung 9 Tage nach Ausspruch der Abmahnung eine zu kurze Bewährungszeit sei,
LAG Hamm, BB 1983, 1858.
Die Kündigung und das in der Abmahnung missbilligte Verhalten müssen den gleichen Unrechtsgehalt haben, Kündigungsgründe und Inhalt der Abmahnung müssen dem gleichen arbeitsrechtlichen Pflichtenkreis zugeordnet werden können,
BAG, Urt. v. 18.01.1980, EzA § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7; Urt. v. 15.08.1984, EzA § 1 KSchG Nr. 40; BAG, Urt. v. 27.02.1985-7 AZR 525/83 (unveröffentlicht); LAG Köln, Urt. v. 07.10.1987, LAGE § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 15; ArbG Wiesbaden, BB 1985, 733; Bepler, Fehler bei der Kündigung von Arbeitnehmern, Skriptum Bonner Anwaltsverein 1993, S. 8.
Die Abmahnung muss schließlich erfolglos gewesen sein. Der Arbeitnehmer muss durch ein erneutes einschlägiges Fehlverhalten deutlich gemacht haben, dass bei ihm die Warnung des Arbeitgebers, die in der Abmahnung zum Ausdruck kam, nicht gefruchtet hat, sodass auch in Zukunft mit weiteren vergleichbaren Fehlverhaltensweisen gerechnet werden muss.
Die Abmahnung muss nicht schriftlich, sie muss auch nicht allein dem betroffenen Arbeitnehmer gegenüber erklärt worden sein, sie kann auch mündlich ausgesprochen werden und sie kann auch am Schwarzen Brett für alle Arbeitnehmer ausgehängt werden, etwa in dem Sinne, dass die Arbeitnehmer darauf hingewiesen werden, Schutzhelme zu tragen, andernfalls mit einer ordentlichen Kündigung gerechnet werden müsse,
Schaub, 8. Aufl., 1996, § 130 I, 5.
Ist der Vertragsverstoß allerdings so, dass aus der Sicht eines verständigen Arbeitnehmers die Grundlagen für eine weitere Zusammenarbeit nachhaltig beeinträchtigt sind, bedarf es zur Kündigungsrechtfertigung keiner weiteren Prognose mehr, was künftige Fehlverhaltensweisen angeht; die Abmahnung ist verzichtbar. Wer seinen Arbeitgeber oder einen Vorgesetzten schwerwiegend oder nachhaltig beleidigt, wer mit Abrechnungsaufgaben betraut ist und sie grob fahrlässig unsorgfältig mit erheblichen Vermögensgefahren für den Arbeitgeber schlecht erfüllt, oder wer Arbeitsunfähigkeit vortäuscht und Lohnfortzahlung in Anspruch nimmt, ohne krank zu sein, der beseitigt normalerweise ohne weiteres die Basis für die weitere Zusammenarbeit. Wer Vermögensinteressen des Arbeitgebers wahrzunehmen hat, diese bewusst mit Schaden für den Arbeitgeber vernachlässigt, wer Provisions- oder Spesenabrechnungen fälscht, dem kann wirksam gekündigt werden, ohne dass es einer vorangegangenen, abgemahnten Pflichtwidrigkeit im gleichen Pflichtenkreis bedarf,
BAG, Urt. v. 29.07.1976, EzA § 1 KSchG Nr. 34; BAG, Urt. v. 18.01.1980,
EzA § 1 KSchG, Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7; BAG, Urt. v.
18.11.1986, EzA § 611 BGB Abmahnung Nr. 4; BAG, Urt. v. 30.06.1983, EzA
§ 1 KSchG Tendenzbetrieb Nr. 14.
6. Sowohl bei der außerordentlichen als auch bei der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung gilt der vom Bundesarbeitsgericht aufgestellte Grundsatz, dass vor Ausspruch einer Kündigung der Arbeitnehmer im gleichen Pflichtenkreis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgemahnt worden sein muss,
BAG, Betr. 1982, 758; NZA 1992, 1028.
Für die außerordentliche Kündigung gilt, dass eine Abmahnung als Teil des Kündigungsgrundes nur dann erforderlich ist, wenn der Arbeitnehmer mit
vertretbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest als ein nicht erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen,
BAG NJW 1984, 1917; NZA 1993, 308; NZA 1992, 1028.
7. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist bei Störungen im Vertrauensbereich eine vorherige Abmahnung grundsätzlich entbehrlich,
BAG, Urt. v. 2.6.1960, AP Nr. 42 zu § 626 BGB; Urt. v. 30.11.1978, NJW
1980, 255.
Das BAG hat diese Rechtsprechung zwischenzeitlich modifziert. Bei Störungen im Vertrauensbereich ist eine Abmahnung jedenfalls dann nicht entbehrlich, wenn der Arbeitnehmer annehmen durfte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig bzw. der Arbeitgeber werde es zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten ansehen,
BAG, Urt. v. 30.6.1983, NJW 1984, 1917; Urt. v. 5.11.1992, NZA 1993,
308; Urt. v. 14.2.1996, NZA 1996, 873.
Der zweite Senat hat nunmehr in zwei Urteilen
Urt. v. 26.01.1996, NZA 1995, 517; Urt. v. 04.06.1997, NZA 1997, 1281,
entschieden, dass auch bei Störungen im Vertrauensbereich jedenfalls dann vor der Kündigung eine Abmahnung erforderlich ist, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann.
Der Kündigungszweck sei zukunftsbezogen ausgerichtet. Entscheidend sei, ob eine Wiederholungsgefahr bestehe und ob sich das vergangene Ereignis auch zukünftig belastend auswirke. Erst nach einer Abmahnung werde die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass sich der Arbeitnehmer auch in Zukunft nicht vertragstreu verhalten werde. Eine Abmahnung ist nach dieser Rechtsprechung nur dann entbehrlich, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aufgrund derer die Abmahnung nicht als erfolgsversprechend angesehen werden kann.
Diese Rechtsprechung ist zwar für den Alkoholmissbrauch entwickelt, wird vom zweiten Senat allerdings als grundsätzliche Änderung der Rechtslage bei außerordentlichen Kündigungen, insbesondere unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung ausgewiesen.